Das Wahlgeheimnis: Das Feigenblatt der Feigen

In den nächsten Tagen werden wir das Wort wieder unzählige Male lesen können: «Wahlgeheimnis». Das ist nicht das, wonach es klingt – aber die Politiker, die wir wählen, missbrauchen den Begriff, um ihre Intransparenz zu rechtfertigen.

Die Fakten sind einfach und schnell erklärt. Bei der Wahl des Bundesrats durch die Bundesversammlung gilt das sogenannte Wahlgeheimnis. Das bedeutet laut der Bundeskanzlei folgendes:

«Die Stimmabgabe ist geheim (Art. 130 ParlG). Dazu stehen anonyme Stimmzettel zur Verfügung, die von den Ratsweibeln in verschlossenen Urnen eingesammelt werden.»

Geheime Stimmabgabe bedeutet: Die Parlamentarier wählen nicht über ein elektronisches Wahlsystem oder wie einst durch Heben der Hand, sondern schreiben einen Namen auf einen Zettel, der keine Rückschlüsse auf sie zulässt. Das wiederum heisst: Es gibt keine Verpflichtung, offenzulegen, wen man gerade gewählt hat. Man muss das nicht tun.

Das heisst aber nicht etwa umgekehrt, dass man nicht sagen darf, wen man gewählt hat. Das kann man durchaus tun. Das Wahlgeheimnis ist ein Schutz für diejenigen, die diesen in Anspruch nehmen wollen. Es beinhaltet aber kein Verbot, das Wahlverhalten öffentlich zu machen. Das Gesetz untersagt das nicht.

Hoffentlich auch nicht. Die Bundesversammlung ist keine Geheimloge, in der sich Leute in Kutten treffen und nach dem Aussprechen eines Codeworts Einlass in das verlassene Schloss erhalten. Das sind gewählte Volksvertreter, von denen man ganz gerne wissen würde, was sie so treiben, nachdem man ihnen zu ihrem gut bezahlten Mandat verholfen hat.

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Aber dennoch berufen sich unzählige Parlamentarier nach geschlagener Schlacht jedes Mal auf das «Wahlgeheimnis», als würde ihnen dieses untersagen, Transparenz zu schaffen. Das Schlimmste dabei: Die Journalisten lassen das stehen wie ein Naturgesetz.

So kann Mitte-Nationalrat Christian Lohr beispielsweise in einer Zeitung verkünden, er sage nicht, an wen seine Stimme gehe, denn: «Er bezieht sich auf das Wahlgeheimnis.» Und das bleibt so stehen, als wäre es eine ernstzunehmende Antwort. Dabei ist es eigentlich einfach nur das Feigenblatt eines Feigen.

Dass man vor den Wahlen nicht sagt, wen man zu unterstützen gedenkt: Das macht angesichts der strategischen Planung der Fraktionen vor einer Bundesratswahl durchaus Sinn. Während den Wahlgängen kann sich die Dynamik jederzeit verändern und damit möglicherweise auch das Wahlverhalten.

Aber wer sich auch danach noch hinter dem Wahlgeheimnis versteckt, sagt damit eigentlich nur eines: Seine Wähler gehen ihm am Allerwertesten vorbei, und nun, da er sein Pöstchen für vier Jahre auf sicher hat, fühlt er sich nicht verpflichtet, zu sagen, was er eigentlich so treibt. Das ist Politikerarroganz vom Feinsten, wobei diese Eigenschaft auch nicht gerade eine neue Erkenntnis ist.

Gewählte Volksvertreter, die sich hinter einem Geheimnis verschanzen, das kein Verbot ist, sollte man bei der nächsten Gelegenheit jedenfalls nicht mehr wählen. Sie nehmen den Wählerauftrag offenbar nicht ernst. Nichts, was ein Parlamentarier während seiner gut besoldeten Zeit so treibt, sollte «geheim» gehalten werden. Auch dann nicht, wenn ihm das Parlamentsgesetz dieses Hintertürchen offen hält. Das ist eine Frage des Charakters.

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