Der Fall Lindemann und die Frage: Moral oder Justiz?

Wenig überraschend war ich jeweils nicht dabei, wenn Till Lindemann von Rammstein Mädels zu sich in den Backstage-Bereich einlud. Das heisst, dass ich nichts darüber weiss. Und es wäre schön, wenn der Rest der Welt das auch endlich zugeben würde.

Ich habe mich in den sozialen Medien bereits zum Fall Lindemann geäussert. Alles, was ich dort gesagt habe: Ich habe keinen Grund, bei schweren, aber unbewiesenen Vorwürfen einfach sicherheitshalber mal den Beschuldigern zu glauben und den Beschuldigten zu verdammen.

Wir leben in einer Zeit, in der eine junge Frau aus Polen mal schnell behaupten kann, sie sei die entführte Maddie aus Grossbritannien und damit Millionen von Klicks generiert. Es war nie einfacher, irgendetwas in die Welt zu posaunen und damit Resonanz zu erhalten. Das heisst natürlich nicht, dass generell nichts von dem stimmen kann, was jemand schreibt. Es heisst aber, dass wir aus der Sache Tempo rausnehmen müssen. Lasst die Justiz ihre Arbeit machen und urteilt dann – NACH dem Urteil. Wer heutzutage ernsthaft auf alles aufspringt, was jemand in den sozialen Medien erzählt, wird bald durchgeschmorte Synapsen haben.

Für jenen Beitrag habe ich sogar Schelte erhalten von Leuten, die meine Texte laut eigenem Bekunden gern lesen. Sie fanden es ganz schlimm, dass ich mich «für Till Lindemann einsetze». Bitte was? Ich weiss gerade nicht, wer oder was mir mehr egal ist als Lindemann. Es geht nicht um ihn. Es geht ums grosse Ganze.

Es sind wilde Zeiten. Danke für Ihre Unterstützung.

Die Reaktionen zeigen mir, wie weit wir es gebracht haben. Es ist heute bereits ungeheuerlich, sich gegen Vorverurteilungen zu wehren. Es ist heute bereits moralisch verwerflich, nach Belegen für schwere Vorwürfe zu fragen. Reflexartig müssen wir einfach jedem, der sich als Opfer präsentiert, blind glauben und den angeblichen Übeltäter mindestens virtuell steinigen und wirtschaftlich zerstören. Danach können wir ja immer noch in Ruhe schauen, ob was dran war.

Verzeihung, aber so funktioniere ich nicht, und ich bin schwer davon überzeugt, dass niemand so funktionieren sollte. Denn sonst funktionieren WIR ALLE bald nicht mehr.

Nicola Siegrist, Präsident der Schweizer Jungsozialisten, sagte in Interviews, die «Gesellschaft» stehe in solchen Fällen in der Verantwortung, etwas zu tun, BEVOR ein Gericht ein Urteil fällt. Damit meint er: Die Veranstalter von Konzerten müssten Rammstein-Auftritte jetzt einfach mal absagen, auch wenn noch alles unklar ist.

Was hat dieses Jüngelchen bitte für eine Vorstellung vom Rechtsstaat? Dann kann ich künftig, wenn in meinem Heimatort ein Konzert der Wildecker Herzbuben geplant ist und ich die nicht ausstehen kann, einfach einen digitalen Vorwurf verbreiten und darf damit rechnen, dass der Auftritt abgesagt wird? Das klingt praktisch!

Noch einmal, und ich tippe bewusst ganz langsam, damit es eher einsinkt: Damit sage ich nicht, dass die Vorwürfe gegen Till Lindemann nicht stimmen. Wie sollte ich das auch wissen? Ich weiss aber auch das Gegenteil nicht. Es steht Wort gegen Wort. Und nun wird das Ganze juristisch untersucht, was auch völlig richtig ist. Wenn irgendwelche K.O-Tropfen im Spiel waren oder Gewalt, dann ist die Grenze massiv überschritten. Darüber muss man nicht mal diskutieren.

Aber bis klar ist, was passiert ist, hat «die Gesellschaft» überhaupt nichts damit zu schaffen. In aller Offenheit: Wer in Bern gegen Rammstein demonstriert hat, beweist damit, dass er sich aus dem System des Rechtsstaats und aus der Gesellschaft verabschiedet hat. Vorverurteilung ist nie richtig. Egal, wie empört man gerade ist.

Da wird derzeit aber dagegen gehalten mit dem Hinweis: Man müsse grundsätzlich den möglichen Opfern einfach mal glauben. Das heisst es in den sozialen Medien, und das finde ich richtig. Ich verstehe nur etwas anderes darunter. Man soll jemandem, der sagt, Opfer geworden sein, in dem Sinn glauben, dass die Strafverfolgungsbehörden dieses mögliche Opfer empfangen, seine Vorwürfe anhören und in der Sache ermitteln. Das ist deren Aufgabe, und ich bin schwer dafür, dass man potenzielle Vergewaltigungsopfer ernst nimmt und ihren Schilderungen zunächst einmal ohne Wenn und Aber Glauben schenkt.

Aber es gibt einen Unterschied zwischen glauben und beweisen. So sehr man rein menschlich für das Opfer da sein möchte, es gilt dennoch, abzuklären, ob es stimmt, was es sagt. Denn ansonsten wird sehr schnell aus dem angeblichen Täter ein Opfer. Dann nämlich, wenn es ganz anders war. Und das, so leid es mir tut, kommt vor. Immer wieder. Aber es gibt ja bekanntlich Feministinnen, die sagen, es sei ihnen egal, wenn Unschuldige wegen einer angeblichen Vergewaltigung im Gefängnis sitzen, Hauptsache, das Delikt wird ernst genommen. Ernsthaft?

Das alles ist nicht so furchtbar schwer zu verstehen, es unterliegt dem gesunden Menschenverstand und entspricht unserem Rechtsstaat.

Aber das Problem ist, dass viele Leute heute ihr eigenes Empfinden mit dem rechtsstaatlich korrekten Vorgehen verwechseln. Tatsache ist, dass es unzählige weibliche Fans gibt, die für ein Viertelstündchen in nächster Nähe zu einer Musiklegende buchstäblich alles tun würden und die bewusste Legende das auch gern ausnützt. Ist das gut? Ist das schlecht? Weder noch.

Es hat jedem anderen egal zu sein, solange es sich um erwachsene Personen handelt und alles einvernehmlich abläuft. Es ist schlicht ein Deal zwischen zwei Menschen. Ein Stückchen Ruhm, eine Anekdote fürs Leben für eine, pardon, Gegenleistung. Das gibt es, seit es die Menschheit gibt. Wenn die 20-jährige Blondine den 99-jährigen Milliardär heiratet, ist es möglicherweise nicht die grosse Liebe. Und jetzt? Wenn beide davon das bekommen, was sie wollen, war es ein guter Deal.

Wer das nun moralisch diskutieren will: Bitte, gern, aber nicht mit mir. Ich mische mich nicht in die Deals anderer Leute ein. Weil es mich, noch einmal, schlicht nichts angeht, solange es ihr freier Wille ist.

Aber die Moral ist nicht die Justiz. Das ist der Punkt. Der einzige.

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Bild: Sven Mandel / CC-BY-SA-4.0