Anfang vom Ende – oder der Anfang vom Anfang?

Was bedeuten die nationalen Wahlen aus Sicht der massnahmenkritischen Kreise? Jedenfalls nicht das, was Politbeobachter spekulieren. Für die «Bewegung» heisst es nun: ab zum Gipfeltreffen – und eine neue Form finden.

In Zürich hat eine Listenverbindung aus Mass-Voll, Aufrecht, EDU und Schweizer Demokraten einen Nationalratssitz gewonnen. Er ging an die EDU. Das ist eine Partei, die aus ihrer Ablehnung der Coronapolitik nie einen Hehl gemacht hat. Die Medien machen aus dieser Überraschung, aus diesem Sieg, nun aber eine Niederlage der Massnahmenkritiker. Was auch sonst?

Wobei sie sich in der Berichterstattung in Zürich auf Mass-Voll konzentrieren, weil Nicolas Rimoldi mehr Klicks generiert als Leute wie Urs Hans oder Remko Leimbach von Aufrecht. Obschon Aufrecht Zürich deutlich vor Mass-Voll lag. Gewonnen haben nicht die mit dem lauten Getöse. Der unvermeidliche Claude Longchamp darf nun auf BlickTV das Ende von Mass-Voll verkünden. Über Aufrecht spricht er nicht. Denn: Für diese Leute ist alles Hans wie Heiri.

Was es aber nicht ist. Dass Aufrecht nicht auf Gebrüll, sondern auf einen sachlichen Dialog setzt, spiegelt sich in den Resultaten. Im Kanton St.Gallen haben wir auf Anhieb 26’000 Stimmen erreicht – beim ersten Anlauf. Das ist je nach Gesamtverlauf einer Wahl ein Drittel bis ein Viertel dessen, was es hier für einen Sitz braucht. Wir liegen damit direkt hinter den Parteien, die am Wahltag im Nationalrat vertreten waren.

Ich kann mich mit Ausnahme der Auto-Partei in den 90er-Jahren an keine Partei oder Gruppierung im Kanton St.Gallen erinnern, die so etwas im ersten Anlauf geschafft hat. Wenn eine Liste 3000 oder 4000 Stimmen holt, kann man das darauf zurückführen, dass die Kandidaten im eigenen Umfeld gut mobilisiert haben. Bei 26’000 ist aber klar: Das geht weit darüber hinaus.

Das zeigt auch mein eigenes Resultat. Die Liste von Aufrecht St.Gallen wurde rund 2500 Mal unverändert eingeworfen. Durch Panaschieren kam mein Name auf über 4000 weitere Wahllisten. Da ist ohne Zweifel etwas in Bewegung geraten.

Erwähnung in den Medien? Null, nada, nichts. Na gut, etwas dann doch noch: Ich figuriere auf einer Liste von «Promis, die es nicht geschafft haben», meine Kandidatur wird als «gescheitert» bezeichnet. Obschon ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass ich persönlich (sorry, es wird unbescheiden) ein Spitzenresultat inmitten altgedienter Politiker der grossen Parteien erreicht habe. Und ganz generell: Wie kann eine kleine Bewegung ohne Geld, die erstmals bei Wahlen antritt, überhaupt scheitern?

Das alles hat natürlich System. Schon vor den Wahlen wurden die Bewegungen, die aus der Coronazeit hervorkamen, als überholt bezeichnet. Weil Covid-19 vorbei sei. Obschon Aufrecht längst ein breites Programm durch alle Politikfelder hat. Dass es nicht für noch mehr gereicht hat, ist dem strategischen Vorgehen vieler Wähler zu «verdanken»: Sie haben uns die Überraschung nicht zugetraut und sicherheitshalber die SVP gewählt, die ja immerhin verspätet ansatzweise unsere Kritik geteilt hat (wenigstens vor den Wahlen, warten wir es ab).

Politik ist harte, langfristige Aufbauarbeit. Wer wie Phönix aus der Asche kommt, den verbläst es meist schnell wieder. Es braucht Struktur, es braucht eine Basis, es braucht Kantons- und Gemeindesektionen, es braucht eine Abstützung auf viele Köpfe. Im Fall von Mass-Voll teile ich die Einschätzung der Analysten für einmal – das dürfte vorbei sein. Wenn eine Bewegung von einem einzelnen Gesicht lebt, ist sie nicht tragfähig, sobald es schwierig wird.

Das trifft aber auf Aufrecht nicht zu. Die entscheidende Frage ist nun, wie viel Energie die Leute hinter der Bewegung haben. Aus der Perspektive «meines» Kantons können diese Wahlen aber nicht der Anfang vom Ende sein. Nur schon allein nicht mit Blick auf die 26’000 Stimmen, hinter denen Wähler stehen, also Menschen.

Gerade erst waren Wahlen, und schon sind wir wieder beim alten Thema: den Medien. Zuerst haben sie den Gründer von Mass-Voll zum Gesicht der gesamten massnahmenkritischen Szene hochgeschrieben. Danach ist er abgestürzt – und nun leiten sie daraus eine Niederlage der Massnahmenkritiker ab. Obschon diese in der Gestalt anderer Gruppierungen grosse Achtungserfolge feiern konnten.

Da «es» längst nicht vorbei ist – Stichwort WHO-Pandemiepakt, Stichwort Neutralität, Stichwort Undsoweiter – darf es auch mit dem Kampf um Souveränität und Freiheit nicht vorbei sein. Er muss allerdings neu gestaltet werden. Es braucht eine Art Gipfeltreffen aller Kreise, die für dasselbe einstehen. Wir wussten schon vor den Wahlen, dass die Zersplitterung der Kräfte ein Problem ist, aber vermutlich brauchte es diesen definitiven Weckruf. Den Altparteien kann man nicht mit einem Wust aus kleinen Würmern entgegentreten – es braucht eine veritable Schlange.