Wenn starke Worte nicht mit dem übereinstimmen, was einer tut: Ein Gastbeitrag von Jérôme Schwyzer*.
Dem deutschen Liedermacher Herbert Grönemeyer ist mit seinem neuen Song «Angstfrei» erneut ein grosser Wurf gelungen. Natürlich: Jedes Stück des 66-jährigen Bochumers ist ein ganz eigenes Kunst- und Wunderwerk. Sein neuester Streich ist jedoch selbst für seine Verhältnisse ein sprachliches und musikalisches Meisterstück.
Leider mit einem sehr fahlen Beigeschmack.
Als kritischer Zeitgenosse kann man sich am Lied nicht restlos freuen, auch wenn man es versucht – weil man weiss, dass das, was Herbert Grönemeyer hier singt, nicht ernst gemeint ist, nicht ernst gemeint sein kann. Denn der Mann ist alles andere als angstfrei durch die letzten zwei Jahre gekommen. Alles andere als mutig auch.
Wie es der Titel schon sagt, handelt das Stück davon, dass wir angstfrei unser Leben in Angriff nehmen sollen, es stellt die Frage, wie wir aus der Enge in die Offensive kommen. Es handelt von Freiheit, von Neuzeit auch und davon, dass in der Unruhe die Kraft liegt, wie es im Text wörtlich heisst. Drohen wir zu verzweifeln («das Schicksal fordert viel»), ruft uns Grönemeyer zu:
Tanz darüber nach!
Der Text fordert uns in jeder Faser und mit jedem Ton auf, «frech» zu sein, auch «fesch», also nicht nur hübsch, sondern auch flott, und uns mutig unseren Problemen zu stellen, durchaus auch quer zu stehen, denn: «Wer nicht strampelt, klebt an der Ampel und wartet auf grün», weiss Grönemeyer.
Allein, und das ist das Irritierende: Herbert Grönemeyer lebt nicht das, was er singt. Er ist also ein Heuchler im allereigentlichsten Wortsinn.
Oder hat bei ihm etwa ein Wandel stattgefunden?
Schon seine erste Singleauskopplung («Deine Hand») aus seinem neuen Album «Das ist los» liess einen etwas irritiert zurück. Grönemeyer, bekannt als «mehrfach geimpfter und auch mehrfach getesteter» treuer Staatsbürger, der nie auch nur eine einzige staatlich verordnete Zwangsmassnahme, also auch das Social Distancing, in Frage gestellt hat, singt dort: «Deine Hand ist meine Bank.»
Die Hand, diese Hand des Mitmenschen, mit der man während zwei Jahren um keinen Preis der Welt in Berührung kommen durfte – die Hand des Todes sozusagen –, diese Hand des Nächsten also erhebt Grönemeyer in den Olymp der Mitmenschlichkeit und des Miteinanders, wenn er singt:
Deine Hand gibt mir
Den Halt, den ich so dringend brauch’, um nicht
Zu brechen, halt’ sie fest, und wir, und wir
Wir könnten uns noch retten
Deine Hand, sie schiebt
In Liebe meine Hand an, gibt und gibt
Alles, was sie kann, sie ist mein Pier.
War man also schon bei diesem Lied mehr oder weniger erstaunt darüber, wie Singen und Handeln des erfolgreichsten deutschen Liedermachers der Gegenwart in keiner Weise übereinstimmen, ist die Verwunderung in «Angstfrei» noch grösser. Denn Grönemeyer spricht in seinem Lied nicht nur von der Angstfreiheit, sondern auch von der Freiheit. Von der Freiheit also, die während den letzten Jahren vom Staat unterdrückt und vergewaltigt wurde. Er singt sogar wörtlich:
Enttarne Lügen
mit Vergnügen
Das irritiert. Wurden nicht all jene, die sich in den letzten Jahren mit oder ohne Vergnügen für die Freiheit stark gemacht haben, all jene, welche ihre Stimme erhoben und staatliche Lügen aufgedeckt haben, angeprangert und diffamiert? Und hat nicht Grönemeyer selber bei diesem «Querdenker-Bashing» mitgemacht? Zum Beispiel, als er im Dezember 2021 alle freiheitsliebenden Mitbürger pauschal diffamierte, indem er sagte, dass die Pandemie und Impfung von einigen genutzt würde, «um ihrem Unmut freien Lauf zu lassen.» Dies sei «tragisch und fatal.».
Wie sollten wir «Querdenker» jetzt Herbert Grönemeyer nicht mit seinen eigenen Worten zurückrufen, mit seinem eigenen brillanten Text zurücksingen:
Keiner kriegt uns jetzt klein
Keiner macht sich jetzt klein
Denn wir wollen:
Die Wahrheit finden
und verbinden
mit purer Lebenslust.
Vielleicht aber, und das ist wirklich sehr zu hoffen, hat bei Herbert Grönemeyer auch ein Prozess des Umdenkens stattgefunden. Jeder kann ja zur Besinnung kommen. Schliesslich musste er letztes Jahr seine geplante «20 Jahre Mensch»-Tour verschieben, weil er sich – obschon mehrfach geimpft – mit Corona infiziert hat und die Impfung einmal mehr nicht das gehalten hat, was sie versprach.
Manchmal geht der schwerste Lebenslauf
verworrene Wege und dann doch auf.
Wem wäre diese Zeile mehr zu Wünschen als dem Texter dieser Zeilen selbst?
*Jérôme Schwyzer ist Sekundarlehrer und Präsident des «Lehrernetzwerk Schweiz».
Bild: Stefan Müller / Flickr