Ich stelle vor: Den Bürger 2.0. Den ewigen Rebellen. Der es den Mächtigen zeigen will. Und es dann doch nicht tut. Weil er merkt: Man kann ja stattdessen auch gegen unten treten.
Er bezahlt nicht gerne Steuern. Der Staat macht sowieso alles falsch. Um ihn herum werden lauter faule Leute mit seinem Geld finanziert. Ausländer strömen ins Land. Volksentscheide werden missachtet. Man müsste einen Aufstand veranstalten, denkt er. Es denen da oben mal so richtig sagen. Oder wenigstens einen Leserbrief schreiben. Er nimmt es sich vor. Schon bald wird er nicht mehr schweigen. Aber nicht gerade jetzt.
Denn die Heizung ist warm. Der Kühlschrank ist voll. Und Netflix läuft. Alles gut.
Läden werden geschlossen. Man kann nur noch das Lebensnotwendige einkaufen. Darüber kann er sich nicht einmal am Stammtisch beklagen: Die Restaurants sind ebenfalls zu. Die Kinder werden zuhause beschult. Damit kann er leben, da kümmert sich sowieso seine Frau drum. Aber alles in allem geht es ihm auf die Nerven. Er würde gerne etwas sagen. Sein Nachbar geht auf die Strasse gegen die Massnahmen. Einen Moment lang denkt er darüber nach, mitzugehen. Aber es ist nur ein Anflug.
Denn die Heizung ist warm. Der Kühlschrank ist voll. Und Netflix läuft. Alles gut.
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Jetzt hat er dieses Corona erwischt. Drei Tage liegt er flach. Das gab es schon früher. Nur lag er damals jeweils einfach, bis er wieder fit war. Dieses Mal macht er diesen Test. Was er früher als Grippe ausstand, hat nun einen anderen Namen. Das verschafft ihm einige Tage mehr zuhause, er muss ja drin bleiben, wobei diese Tage nicht besonders entspannend sind, weil die Schulen noch geschlossen sind und die Kinder kerngesund herumtollen. Er versteht das nicht ganz. Macht das Sinn? Man sollte das wirklich hinterfragen. Aber es ist der falsche Moment.
Denn die Heizung ist warm. Der Kühlschrank ist voll. Und Netflix läuft. Alles gut.
Keine Ferien im Herbst? Er sieht die Plakate, wie es dennoch möglich ist. Zwei Spritzen, und er und seine Familie sind frei, herumzureisen. Irgendwie scheint ihm das eine billige Argumentation. Aber gleichzeitig liest er, dass die Impfung auch ein Akt der Solidarität ist. Dass er andere Menschen damit schützt. Weil er dann das Virus nicht mehr weitergibt. Das klingt gut, das klingt edel. Er tut es. Als er beim Arzt ist, hat er das Bild vom Sonnenuntergang in Sardinien vor sich. Er schiebt es weg. Nein, es geht nicht um die Reise ins Ausland. Es geht um Solidarität. Er tut das nicht für sich, er tut das für andere. Und sowieso, warum sollte er sich viele Gedanken machen?
Denn die Heizung ist warm. Der Kühlschrank ist voll. Und Netflix läuft. Alles gut.
Die Impfung fährt ihm nicht gut ein. In der Nacht danach erwacht er mit Herzrasen. Er fühlt sich müder als damals nach dem positiven Test. Er wird wütend. Nicht auf die Impfung. Die hat er ja aus reiner Solidarität genommen. Und die zwei Wochen später in Sardinien waren auch wunderschön, selbst wenn er etwas unter Atemnot litt. Er ist wütend auf die Ungeimpften. Die sind schuld, dass es überhaupt noch Massnahmen gegen das Virus gibt. Würden sie sich alle impfen lassen, wäre alles wie früher. Warum muss er Herzrasen haben für seinen selbstlosen Einsatz für die Gesellschaft, während andere so egoistisch sind? Man könnte verzweifeln. Aber er beschliesst, sich auf das Gute im Leben zu konzentrieren.
Denn die Heizung ist warm. Der Kühlschrank ist voll. Und Netflix läuft. Alles gut.
Sie räumen auf mit diesem Demonstrantenpack. Er sitzt auf dem Sofa mit einer Flasche Bier und prostet den Polizisten auf dem Bildschirm zu. Gut so! Der Staat sorgt sich umsichtig und verhältnismässig für das Wohl aller, und einige Verrückte wehren sich dagegen? Wo kämen wir hin, wenn jeder einfach alles hinterfragen würde? Sie haben es uns doch ganz klar gesagt: Das Virus ist tödlich, die Impfung ist das einzige Gegenmittel, und sie ist sicher. Er reibt sich sein schmerzendes Herz und steht auf, um die nächste Flasche zu holen. Das wird schon wieder.
Denn die Heizung ist warm. Der Kühlschrank ist voll. Und Netflix läuft. Alles gut.
Er spricht nicht mehr mit seinem Nachbarn. Dieser egoistische Kerl ist ungeimpft. Unglaublich. Wie paranoid kann man sein? Wie kann man Angst haben vor einer harmlosen Spritze, dem Resultat sorgfältiger wissenschaftlicher Arbeit? Er geht achtlos an seinem alten Bekannten vorbei und streift sich die Maske über, bevor er in den Zug steigt. Pflicht ist es nicht mehr. Aber Vorsicht ist immer besser. Er wird seiner Frau sagen, dass ihre Kinder gefälligst nicht mehr mit den Nachbarskindern spielen sollen. Unsolidarische Virenschleudern allesamt. Aber es ist Zeit für schöne Gedanken. Er freut sich auf zuhause.
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Die Impfung schützt nicht gegen die Übertragung des Virus? Das hat er anders in Erinnerung. Er ist ziemlich überzeugt, dass ihm der Arzt das Gegenteil versprochen hat. Und Alain Berset auch. Auf SRF. Wie kann das also sein? Aber egal. Er ist jedenfalls geschützt vor einer schweren Erkrankung. Vom Bruder des Briefträgers seines Schwagers hat er gehört, dass nur Ungeimpfte auf der Intensivstation liegen. Die Entscheidung zur Impfung war also richtig, denkt er sich, als er die Treppe hochsteigt, die ihm jeden Tag länger vorkommt, weil die Luft knapp wird. Mag sein, dass da etwas falsch kommuniziert wurde in einem kleinen Detail. Aber es ist keine Frage: Ohne Impfung werden wir das Virus nie los. Und wozu soll er sich aufregen?
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Er liest, dass viel weniger Kinder zur Welt kommen. Er sieht die Zahlen der aktuellen Übersterblichkeit. Erklärungen gibt es noch keine. Aber er ist optimistisch. Es gibt da doch dieses «Long Covid», das wird es sein. Oder eine noch unentdeckte Variante des Virus. Irgendwas mit Covid-19 jedenfalls. Das muss es einfach sein. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Und es gibt auch keinen Grund, gerade jetzt vertieft darüber nachzudenken.
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