Write drunk, edit sober

Hier mal wieder ein kleiner Extrakt aus meinem Buch «Schreib!», einer Mischung aus Autobiografie und Inspiration zum eigenen Schreiben. Diesmal zur Frage: Macht uns Alkohol im kreativen Prozess besser oder irgendwie schlechter – oder beides?

Das Buch kann hier direkt beim Verlag bestellt werden.

Write drunk, edit sober.
Ein völlig nüchterner Zwischenruf.

Sind Sie ehrenamtlicher Aktivist beim Blauen Kreuz, dem Vorreiter für eine alkoholfreie Gesellschaft? Dann empfehle ich, zum nächsten Kapitel zu hüpfen. Denn das hier wird Ihnen nicht gefallen.

Ich trinke gern dann und wann einen Schluck Alkohol. Dann und wann auch mehr als einen Schluck. Und ich halte es für ziemlich verlogen, wie man den Zusammenhang zwischen Rauschmitteln und kreativen Prozessen in der Gesellschaft totzuschweigen versucht. Natürlich gilt der Zusammenhang nicht für jeden. Aber für so viele, dass man ihn thematisieren sollte.

Stephen King beschreibt in seinem übrigens überirdisch guten Werk «On writing» (deutsche Ausgabe: «Über das Schreiben») sehr anschaulich, wie ihm zu Beginn seiner Laufbahn sein zunehmend übermässiger Alkoholkonsum erst bewusst wurde, als er eines Morgens ganze Säcke mit leeren Bierdosen zur Entsorgung bereitstellen musste, die sich in einer einzigen Nacht des Schreibens angesammelt hatten. Er hat dem Bier danach offenbar erfolgreich entsagt. Was nichts daran ändert, dass er zuvor unter dem Einfluss von Bier bereits sehr erfolgreich war.

Soll das nun heissen, dass Sie trinken müssen, um ein guter Autor zu sein? Das wäre wohl eine verkaufsfördernde These in diesem Buch. Ich mag sie dennoch nicht erheben. Der «King» kann es ja inzwischen auch ohne. Stattdessen spreche ich wie immer nur aus eigener Erfahrung. Und die lautet «Ja, aber…» und «Nein, aber…» zugleich.

Mein erster Roman «Rättigen» (bestellbar bei Klick auf den Link) erschien 2008 nach rund sieben Jahren Arbeit. Nun wird jeder, der mich halbwegs kennt, bestätigen, dass ich ein ausgesprochen ungeduldiger Schnellschreiber bin. Ich halte es nicht aus, mich lange mit ein- und demselben Stoff auseinanderzusetzen. Ich langweile mich dann gewissermassen an mir selbst. Wie zur Hölle konnte ich also sieben geschlagene Jahre mit einem einzigen Buch verbringen?

Die banale Wahrheit ist: Diesen Roman habe ich in schätzungsweise sieben Nächten geschrieben und zwischendurch immer mal wieder ein Jahr Pause eingelegt. Ich war damals damit beschäftigt, eine Firma aufzubauen und Kunden wie TV3 zu befriedigen. Ich hatte schlicht immer wieder für sehr lange Phasen keinen Kopf für Literatur und permanent eine Entschuldigung dafür, nicht weiterzuschreiben.

Die 180 Seiten in «Rättigen» sind unterm Strich das Ergebnis einiger weniger sehr rauschhafter Stunden. Wenn ich am Morgen nach der Arbeit ins Schlafzimmer torkelte, hatte ich nicht selten 20 oder 30 Manuskriptseiten auf einen Schlag zu Papier gebracht, ohne später auch nur ein Komma zu verändern. Mein Kopf war damals zu voll mit Alltagskram, um mich einer Geschichte zu widmen, von der ich keine Ahnung hatte, ob ich sie jemals vollenden würde – geschweige denn, ob es jemand lesen würde. Der einzige Weg, mich diesem Stoff zu nähern, lag darin, den besagten Kopf zu leeren. Und das, so leid es mir tut, geht unter anderem mit Alkohol. Die kleinen Sorgen des Alltags verschwinden nicht ganz, aber sie verabschieden sich vorübergehend aus dem Bewusstsein, und das schafft Platz für neue Gedanken.

Wer «Rättigen» lesen mag, kennt nun die Entstehungsgeschichte. Ich versichere hoch und heilig: Kein Wort in jenem Buch ist nüchtern entstanden.

Die Frage ist natürlich: Gäbe es «Rättigen» in der heutigen Form auch ohne Bier? Ich habe keine Ahnung, weil es sich im Nachhinein nicht überprüfen lässt, aber mein Bauchgefühl sagt Nein. Denn ich habe daran nicht nur im Rausch gearbeitet, das Ergebnis ist auch ziemlich rauschhaft. Was jetzt folgt, ist die Beschreibung eines puren medizinischen Laien, und Neurologen mögen aufschreien ob meiner Unkenntnis, aber ich bin überzeugt: Die enthemmende Wirkung von Alkohol hat es mir damals ermöglicht, gewisse Hirnregionen anzuzapfen, die dann dieses Resultat ausspuckten.

Es wäre für die Welt der Literatur ziemlich tragisch, wenn Alkohol die Voraussetzung für grosse Würfe wäre. Wir würden dauernd Literaten von Weltruf zu Grabe tragen, die an Leberzirrhose eingehen oder besoffen in einen Brückenpfeiler fahren. Das kann es natürlich nicht sein. Gleichzeitig wäre es naiv, zu verschweigen, dass Alkohol etwas mit uns macht – im Guten wie im Schlechten. «Rättigen» ist bis heute der einzige meiner längeren Texte, die ich mir hin und wieder selbst mit Freude wieder als Leser vornehme. Ich könnte darüber verzweifeln, dass ich dort nicht meinem nüchternen Ich begegne, aber ich habe es nicht vor. Es ist, wie es ist.

Mein Tipp: Schreiben Sie in aller Regel nüchtern. Um Ihrer Gesundheit und Ihrer Beziehung Willen. Aber wenn es das Schicksal will, dass sie in der letzten Nacht stockbesoffen an der Tastatur sassen, dann schieben Sie das Resultat nicht einfach am nächsten Tag vor lauter Scham vor sich selbst in den digitalen Papierkorb. Lesen Sie es zuerst in aller Ruhe. Und wenn es gut ist, und das ist durchaus möglich, dann bauen Sie darauf nüchtern auf. Ja, der Kopf schmerzt, und möglicherweise haben Sie das Badezimmer vollgereihert. Aber wird das besser, wenn Sie etwas ignorieren, das gelungen ist?

Nichts im Leben ist so schlecht, dass es nicht für etwas gut wäre. Nicht mal Alkohol.

«Schreib!» hier bestellen für CHF 10 zzgl. Porto.