Abtreibungen sind ein Gewissensentscheid. Sind sie auch ein Fall für eine «Gratulation»? Ein Gastbeitrag zu einem Buch, das Frauen zu ihrem Entschluss beglückwünscht.
Ein Gastbeitrag von Jérôme Schwyzer, Sekundarlehrer und Präsident des Lehrernetzwerks Schweiz
Eine Demokratie lebt ja davon, dass man sich auch mit Positionen auseinandersetzt, die einem meilenweit entfernt sind, die man ganz und gar nicht verstehen, nicht nachvollziehen kann. Und doch: Dieses Hineinversetzen ins Gegenüber, das Versuchen, eine Position des anderen zu begreifen, ist nicht nur für die demokratischen Prozesse wichtig, sondern es bereichert und erweitert auch den eigenen Horizont, das eigene Leben.
Als ich das Buch «Gratulation – 15 Erzählungen über Abtreibung» in der Buchhandlung erblickt habe, gehalten in den Regenbogenfarben, die Sprache verunstaltet mit Gendersternen, war meine erste Reaktion natürliche Ablehnung, die leicht in Wut zu kippen drohte. Man kann ja für Abtreibung sein, obschon ich das nie verstehen werde, aber zu diesem Eingriff zu gratulieren, wirkt auf mich – mit Verlaub – pervers.
Seit Jahrzehnten beschäftigt mich das Thema der Abtreibung sehr und ich setze mich schon lange für die Würde des menschlichen Lebens ein – schon vor der Geburt. Denn jeder Mensch ist einzigartiges Individuum von Anfang an. Zwischen Zeugung und Geburt liegen nur ein paar Monate Zeit, mehr nicht. Wir alle waren schon wir, auch als wir noch im Mutterleib waren.
Es war also ausgeschlossen, dass mich dieses Buch irgendwie bekehren würde und doch: Irgendetwas in mir – eine sanfte Stimme der Toleranz oder ein Hirngespinst (wer weiss das schon) – flüsterte mir ein, dass ich mich in dieses Territorium, das mir doch ganz und gar fremd und fern ist, vorwagen und das Buch lesen soll.
Und es war trotz allem Befremden – inhaltlich wie oft auch sprachlich – eine wertvolle Erfahrung, die mich irgendwie in die Köpfe Andersdenkender transportiert hat. Eine Erfahrung, die mir geholfen hat, die Argumentationslinien, das Story-Telling der Abtreibungs-Befürworter und -Verharmloser etwas besser zu verstehen.
Zu sagen ist: Das Schlimmste kommt zu Beginn: «Die Vertreterin», eine Geschichte, die in der Zukunft spielt, ist eine ganz und gar düstere und beängstigende Story einer Vertreterin, die portable Geräte zu Frauen (und Männern sic!) nach Hause bringt, damit diese einfach und selbständig abtreiben können. Es ist, so erfährt der Leser, der erste Job, den die Erzählerin wirklich erfüllt, weil er so sinnstiftend, so alles andere als vergeblich sei.
Die Sache gestaltet sich ganz easy und ganz bio. Die Geräte sind einfach zu bedienen und können nach Gebrauch samt menschlichem Inhalt fachgerecht und umweltfreundlich entsorgt werden. Das befriedigt das Bedürfnis und beruhigt das Gewissen einer woken Gesellschaft! Denn klimaneutral und bio ist schliesslich alles, was zählt. So verzichtet auch die sympathische und allezeit hilfsbereite Ex-Partnerin der Erzählerin (lesbisch, quelle surprise), gänzlich auf Autos – auch elektrische – und ernährt sich vegan.
Dieses krude Weltbild vom Menschen als Schädling (wie wir es auch in der Klimadebatte immer wieder hören) wird in dieser Geschichte in verschiedenen Facetten zur Vollendung gebracht. Die Geschichte könnte man als Hirngespinst einer Mit-Dreissigerin abtun, allein die aktuellen gesellschaftlichen Umstände machen sie zu einer düsteren Vorahnung, zu einer Dystopie, die droht, fürchterliche Realität zu werden, wenn sich nicht genügend Menschen mit gesundem Menschenverstand finden, die aufstehen und Einhalt gebieten.
Das Buch hat auch berührende Geschichten und sie handeln von Verlorenen, Verdammten schon fast: Da ist Kounaté, Sklavin auf einer Baumwollplantage auf Haiti, die, von einem ihrer Herren schwanger, das Kind nun loswerden will. Oder loswerden muss. Denn ein Kind würde die Fluchtpläne, die sie mit ihrer Geliebten und Leidesgenossin Luo (auch sie beide homosexuell, was sonst), durchkreuzen. Sie sucht eine alte Schamanin auf und: Welch Wunder – Der Zauber funktioniert. Die Flucht kann beginnen, endet aber tragisch. Die Rechte eines Ungeborenen scheinen in diesem Setting der Sklaverei und Ausbeutung das kleinste Problem zu sein. Und man kann dies zumindest in dieser Geschichte nachvollziehen.
Dann ist da die namenlose Russin in der Sowjetunion, Olga, Natascha, Irina, oder Marina heisst sie, aber den Namen kennt die Erzählerin nicht, will ihn auch gar nicht kennen, denn er spielt keine Rolle. Ihre Abtreibung steht stellvertretend für die vielen Russinnen, die während des Sowjet-Regimes abgetrieben haben. Mit Eindringlichkeit und Bedacht und vor allem mit der nötigen Distanz von Erzählerin zu Hauptfigur wird ihr Weg in die Klinik geschildert. Klar wird: Nicht nur das Wetter ist trist, sondern auch das Leben unter dem sozialistischen Unrechtsregime. Hier wurden Abtreibungen als Massenabfertigung betrieben, jede Frau nichts Weiteres als eine anonyme Nummer. Die Ärzte im besten Fall unfreundlich, im schlechteren Fall betrunken. Das Personal so kalt wie der russische Winter. In Tat und Wahrheit war dieses sozialistische «Paradies» nämlich eine Hölle: Auf eine Geburt kamen vier Abtreibungen. Trauriger Weltrekord. Nebst Millionen toter Babys blieben eben soviele abgestumpfte und zerstörte Frauen zurück. Dass Abtreibung eine Frau nicht ermächtigt oder befreit, sondern in letzter Konsequenz die Frauen nur weiter entwürdigt, dass eine Abtreibung verantwortungslosen Männer als Ausrede dient, tritt hier deutlich zutage.
Vieles an den Geschichten ist verstörend, weil eben auch das postmoderne Weltbild so deutlich zutage tritt. Jeder macht sich seine*ihre*wasauchimmer Wirklichkeit selbst. Wahr ist, was ich empfinde. Objektive Wahrheiten stören dieses vermeintlich freiheitliche Weltbild, sind von gestern. Stehen in einer queeren Welt gänzlich quer.
In allen 15 Geschichten ist das Baby (so wird das ungeborene Leben immerhin auch ab und an genannt, es ist also nicht durchgehend ein Zellklumpen) ein Problem, das es zu lösen, zu beseitigen gibt. Die Schwangerschaft ist also nichts, worauf man sich freuen könnte und was eine Frau mit Stolz erfüllt, sondern etwas Negatives, etwas Schreckliches, etwas ganz und gar «Schlimmes», wie es in einer Geschichte, in der eine Frau gegen den Willen ihres Partners ihr Kind ums Leben und damit den Mann um die Vaterschaft bringt, heisst. Eine grosse Ungerechtigkeit der Natur vor allem – denn an Gott glaubt man ja nicht mehr – dass ausgerechnet «Menschen mit Vulven» diejenigen sind, welche zum Kinder Gebären verdammt sind. Deshalb gilt es, sich davon zu befreien. Denn das Patriarchat lauert auch heute noch überall.
Das Ungeborene bleibt dabei stets anonymes Objekt, nie kann es zum Subjekt werden, denn hierzu müsste man diesem «Fötus» ja zusprechen, was es in Tat und Wahrheit ist: Das Menschsein.
Einmal nur kommt ein Kind zu Wort, das seine Schwangerschaft überlebt hat: Im wohl unglaubwürdigsten und plumpsten Text tritt es als ein erwachsener Erzähler auf, der seiner Mutter über fünf Seiten Vorwürfe macht, darüber nämlich, dass er zu klein geraten sei, dass er deshalb keinen Erfolg im Leben habe und dass sie, die Mutter, die volle Schuld trage an seinem Unglück. Die Botschaft kommt an: Auch in diesem Fall wäre die Abtreibung wohl besser gewesen, hätte es ein glücklicheres Ende genommen – nicht zuletzt fürs Kind.
Was gänzlich fehlt sind Texte, die dieses depressiv-verstimmte Narrativ durchbrechen. Geschichten von Frauen, die sich trotz widriger Umstände fürs Kind entschieden haben und damit glücklich sind. Oder Texte von Frauen, die abgetrieben haben und den Entscheid bitter bereuen. Solche Geschichten gäbe es zahlreiche zu erzählen – real oder fiktiv. Doch ein solcher holistischer Ansatz war gar nie das Ziel der beiden Herausgeberinnen. Vielmehr soll dieses Buch, wie die beiden im Vorwort schreiben, «die Abtreibung als einen Akt der Liebe, als Versuch, der Überbevölkerung oder einer Gewaltherrschaft zu begegnen», verstanden werden.
Allein, diese einseitige Herangehensweise wird der Komplexität des Themas in keiner Weise gerecht. Denn in all ihren Geschichten vergessen die Erzählerinnen und Herausgeberinnen vor allem eines: Dass auch sie einmal in der Rolle des Ungeborenen waren – wie wir alle. Und dass, sie – hätte ihre Mutter sich für eine Abtreibung entschieden – nie ihre Stimme hätten erheben können. Dass keine ihrer Geschichten sich in diesem Buch finden liesse.
«Mein Leben, versteht ihr, das ist meins». Diese Aussage ziert die Rückseite des Buches. Weshalb sollte diese Aussage nicht auch für alle noch ungeborenen Frauen im Mutterleib gelten?
Glückwunsch – 15 Erzählungen über Abtreibung – Charlotte Gneuss und Laura
Weber (Hg), Hanser Berlin, 208 Seiten