Die Faszination des Bösen

So. Mal was fernab von Corona. Ich habe das dringend nötig, meine geneigte Leserschaft sicher auch. Wir brauchen was Angenehmes, Erheiterndes! Wobei, huch: Das habe ich leider nicht zu bieten. Thema heute: Verbrechen.

Ich habe seit früher Jugend eine kleine Obsession. Ich bin besessen vom Bösen. Natürlich nicht direkt, sondern als Konsument. Ich habe Bücher über wahre Verbrechen verschlungen, alles gelesen, was FBI-Profiler über Serienmörder zu sagen haben, und seit es Streamingdienste gibt, stehen mir zu diesem Thema Dokus à discrétion zur Verfügung. Kürzlich musste ich in einer Mischung aus Faszination und Entsetzen feststellen, dass ich diese Leidenschaft auf meine ältere Tochter vererbt habe.

Aber ich bin damit ja generell nicht allein. Ansonsten gäbe es kaum so viele Bücher und Filme zum Thema.

Seit einigen Monaten kann ich mein Interesse auch journalistisch ausleben. Beim «Nebelspalter», bei dem ich ebenfalls tätig bin, betreue ich die Serie «Wahre Verbrechen», die jeweils am Samstag um 18 Uhr läuft. Es hat sich schon ein kleiner Stock an Beiträgen angesammelt, man findet ihn hier, allerdings nur für Abonnenten. Ich gebe gerne zu, dass ich mir damit einen lang gehegten Wunsch erfüllt habe. Auf «Die Ostschweiz» gibt es auch einiges kostenlos zu lesen, zum Beispiel zum Fall der Paketbombe in Buchs oder die ziemlich lange und aufwändige Serie über eine mutmassliche Brandstiftung in Horn. Über diesen Link sind alle acht Teile zu finden.

Es sind ja meist die Abgründe, die uns interessieren. Wenn das Leben eines Menschen aus Freiwilligenarbeit für die Suppenküche und Kirchgang am Sonntag besteht, ist das zwar sehr ehrenhaft, aber nicht besonders fesselnd. Deshalb erhalten die «Bösen» mehr Aufmerksamkeit. Ungerecht, klar, aber Realität.

Die Fallsuche, die ich für die Serie beim «Nebelspalter» betreibe, fördert viele Dinge zutage, die man gerne für nicht möglich hält. Gelegentlich stosse ich auf längst vergessene Verbrechen, bei denen ich mich frage, wie sie in Vergessenheit geraten konnten. Es ist oft nicht die Tat an sich, die mich interessiert, sondern das Motiv. Was treibt Menschen zu einem Schritt, der – gottlob – für die meisten von uns unvorstellbar ist? Ein Teil der Antwort liegt meist in ihrer Vergangenheit. Die Gene mögen eine Rolle spielen, die Sozialisierung und das Umfeld erledigen aus meiner Sicht aber den Rest, den es braucht, damit eine Grenze überschritten wird.

Faszinierend ist auch der schmale Grat, der Normalsterbliche und Verbrecher trennt. «Den Kerl bring ich um» haben vermutlich die meisten von uns schon einmal gedacht, wenn uns jemand gehörig auf den Wecker geht. Wir tun das natürlich nicht. Und wir wissen das im Moment des Gedankens. Wer sich mit Verbrechen und der Biografie von Tätern beschäftigt, stellt aber fest, wie wenig es – gewisse Grundanlagen vorausgesetzt – oft braucht, damit aus der Fantasie Realität wird. Oft scheint der Anlass nichtig, oft ist es auch reine Überforderung, die zum entscheidenden Moment der Ausführung führt.

Das soll nicht nach Rechtfertigung klingen. Aber Geschichten wie die des Raubmörders, der als letzter Verurteilter in der Westschweiz hingerichtet wurde, lassen vermuten, dass sein Leben einen völlig anderen Verlauf hätte nehmen können, wenn einige Variablen anders ausgesehen hätten. Eine Kette von Umständen und Ereignissen führt an den Punkt, von dem aus es keine Rückkehr gibt.

Einst hat mich ein Leser meiner Serie kritisiert, ich würde Verbrechern ein Denkmal bauen, indem ich ihre Geschichte erzähle. Ich war einigermassen erstaunt, weil mir dieser Gedanke noch nie gekommen ist. Die These, die Welt wäre eine bessere, wenn wir die unschönen Teile der Menschheitsgeschichte einfach totschweigen, scheint mir reichlich absurd. Ist es ein Denkmal, wenn jemand eine Hitler-Biografie schreibt? Oder dient es nicht viel eher dem Versuch, nicht zu vergessen?

In einer Podcast-Serie von Spotify über Serienmörder, die ich ansonsten sehr gut gemacht finde, stösst mich auch die dauernde Verwendung von Begriffen wie «Monster» ab. Offensichtlich haben viele Autoren Angst, Täter als Menschen zu bezeichnen. Sie versuchen, eine neue Kategorie zu erfinden, um die Idee zu vermeiden, diese Leute hätten etwas mit uns anderen zu tun. Nur haben sie das eben. Es ist ziemlich billig, auf diese Weise eine Distanz zwischen uns und denen kreieren zu wollen. Wenn es das Ziel ist, Verbrechen zu verhindern, muss man potenzielle Verbrecher als Menschen akzeptieren, ansonsten sind sie unerreichbare Wesen, und man kann Therapien oder andere Behandlungen vergessen. Denn solche gibt es nicht für «Monster», nur für Menschen.

Es ist nicht respektlos gegenüber Opfern, wenn man versucht, zu verstehen, was Täter antreibt. Verstehen heisst nicht: Verständnis. Schon gar nicht Akzeptanz. Verstehen bedeutet: Den Antrieb dieser Menschen zu durchschauen und zu begreifen, wie sie zu dem wurden, was sie sind. Erst wenn uns das gelingt, haben wir die nötigen Werkzeuge in der Hand, um vorzubeugen.