Alles so vorhersehbar (und ein bisschen langweilig)

Wie die Zeitung von heute aussieht, war schon gestern leicht zu erraten. Die vereinigten Redaktionen sind nach draussen geströmt, um zu schauen, wie voll die Restaurants sind und wer selbst dort noch Maske trägt, wo man nicht mehr müsste. Irgendwie gähn.

Mein persönliches Highlight am ersten Tag (fast) ohne Massnahmen: Ein Besuch beim Coiffeur ohne Maske. Das Personal trägt sie allerdings weiterhin. Ein Kunde kommt rein, ein älterer Herr, ebenfalls mit Maske, er sieht sich um und sagt mit zufriedenem Ton in der Stimme: «Sehr schön, die haben Masken auf.» Er selbst nimmt sie nur kurz ab, als man ihm die Haare wäscht. Ist einfach ein bisschen leichter ohne. Er zögert zwar kurz, macht es dann aber und sagt der Angestellten: «Was solls, ich bin ja sieben Mal geimpft.»

Ich schwöre Stein und Bein, dass ich nicht übertreibe. Das hat er genau so gesagt. Und nicht etwa mit ironischem Unterton. Sondern mit sehr viel Stolz.

So eine Begegnung wäre heute nicht nur möglicher Inhalt für einen bescheidenen privaten Blog, sie könnte auch eine Zeitung füllen. Die Journalisten haben heute fleissig Impressionen aus dem öffentlichen Raum gesammelt, Strassenumfragen durchgeführt und so weiter. Das Ergebnis ist überaus überraschend: Die Reaktionen sind geteilt. Zwischen «endlich» und «viel zu früh» gibt es alles. Wer hätte das gedacht!

Das Portal «FM1today» hat es sich ein bisschen leichter gemacht und stattdessen am Bildschirm die Videoplattform «TikTok» nach Schweizer Stimmen abgesucht. Begreiflich, immerhin regnet es heute, wer will da schon nach draussen. Wobei, Moment, Fairness! Ich sehe gerade: Die haben schon gestern eine Strassenumfrage gemacht. Das ewige Los der Videojournalisten.

Der Erkenntnisgewinn solcher Übungen liegt natürlich nahe am Gefrierpunkt. Was soll es mich scheren, was Augusta Müller aus Oberengstringen oder Pirmin Rüdisüli aus Oberwil-Lieli zum Bundesratsentscheid zu sagen haben? Die damit verschenkte Zeit wäre gut angelegt gewesen in einer Recherche über die 10 grössten Pleiten der Task Force, und sehr lange suchen muss man dafür auch nicht.

Reaktionen sind sowieso die Königsdisziplin des Journalismus. X hat etwas gesagt, was meint Y dazu? In den meisten Fällen ist das schon vorher klar, weil man natürlich vor allem Leute fragt, die garantiert nicht derselben Meinung sind, so dass eine hübsche Kontroverse entsteht. Auch hier ist man danach mit Garantie nicht schlauer. Aber es ist eine billige Währung. Vor allem, wenn man eine Liste führt mit Leuten, die zu allem eine Meinung haben.

Aber was beklage ich mich eigentlich? Immer noch besser als Fallzahlen-Rapporte.