Es ist vermutlich «gut» gemeint. Aber es widerspricht allem, was der Schweiz heilig sein müsste. Ein Videocall des ukrainischen Präsidenten Selenskyj direkt in den Saal des Nationalrats ist ein absolutes Unding. Und Parlamentarier, die das zulassen oder dem zuschauen, sind fehl am Platz.
Es ist wirklich sehr einfach. Es ist kinderleicht zu verstehen. Die Schweiz ergreift in einer Kriegssituation nicht Partei. Sie tut das weder mit Soldaten noch mit Waffen noch mit Parolen noch mit Symbolen. Natürlich haben wir diesen Punkt bereits überschritten mit der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland. Aber heisst das nun, dass wir es einfach noch weiter treiben sollen?
Wolodimir Selenskyj hat derzeit sicher viele Probleme, eines aber mit Garantie nicht: Ungehört zu bleiben. Was immer er sagt, was immer er ausstrahlt, es wird von nahezu allen Medien aufgenommen, ungefiltert verbreitet, beklatscht und bejubelt. Wenn der Mann eine Botschaft hat, wird sie verkündet. Wenn ein Schweizer Parlamentarier wissen will, was Selenskyj zu sagen hat, kann er einfach die Zeitung aufschlagen. Es gibt kein Informationsdefizit.
Worin also genau besteht die Notwendigkeit, ihn ins Schweizer Parlament zu schalten, wo er direkt zu unseren Volksvertretern sprechen kann? Natürlich, und darin besteht der Kunstgriff (oder besser die den Volksvertretern nicht würdige Scharade), dass Selenskyj nicht als offizielles Traktandum geführt, sondern irgendwo in eine Pause geschoben wird. So, dass die Parlamentarier nicht «gezwungen» sind, dort zu sein.
Dasselbe Spiel fand in Österreich statt, wo der ukrainische Präsident auf Einladung des Nationalratspräsidenten ausserhalb des offiziellen Parlamentsbetriebs sprach – aber eingebettet in einen Sitzungstag und durchgeführt in den «heiligen Hallen» des Nationalrats.
Die Frage sei erlaubt: Hält man uns eigentlich für doof?
Der Wahnsinn geht weiter. Daher erst recht: Danke für Ihre Unterstützung meiner Arbeit.
Denn ob morgens um 9 Uhr zwischen zwei Abstimmungsrunden oder in der Mittagspause: Tatsache ist, dass die Leinwand im Nationalratssaal aufgespannt wird. Tatsache ist, dass das einzige mögliche Publikum aus dem Parlament und einigen Besuchern besteht. Der Anlass ist nicht geplant im Gemeindesaal von Münsingen oder im Pfarreizentrum von Kandersteg. Er soll im Saal des Nationalrats stattfinden.
Es ist genau diese Symbolik, die Selenskyj sucht und erhalten wird. Und er wird sie bekommen.
Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass man im Ausland einen Unterschied machen wird daraus, dass das Spektakel zwischen 12 und 13 Uhr anberaumt wurde? Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass die beabsichtigte Symbolik an Bedeutung verlieren wird, weil die Rede von Selenskyj nicht im Tagesplan der Bundeskanzlei aufgeführt ist?
Wir alle finden Krieg fürchterlich. Wir alle wollen, dass es aufhört. Wir alle wissen, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist und nicht umgekehrt. Aber hier geht es nicht um Russland oder die Ukraine. Hier geht es um die Schweiz. Um ihre Werte, um ihre Position. Wenn man die Ansprache eines Präsidenten eines Landes, das Kriegspartei ist – unter welchen Voraussetzungen auch immer – im Bundeshaus vor unseren Parlamentariern ausstrahlt, werden auch wir zur Kriegspartei. Wir verlieren die letzten brüchigen Reste unserer bereits mit Füssen getretenen Neutralität.
So einfach ist es. Es ist kinderleicht zu verstehen.
Die Sehnsucht, das «Richtige» zu tun, einem «Underdog» beizustehen, zu punkten bei den Menschen, die Russland als böse und die Ukraine als grossartig sehen möchten, blendet offenbar Leute wie Martin Candinas (Die Mitte), den amtierenden Nationalratspräsidenten. Und gemessen am ausserhalb der SVP nicht existenten Widerstand gegen diese absurde Aktion ist er nicht der einzige. Die Leute, die wir gewählt haben, um unsere Verfassung zu schützen, haben kein Problem mit dieser massiven Verletzung der Neutralität.
Im Journalismus heisst ein altes geflügeltes Wort: «Wir machen uns nicht mit einer Sache gemein, auch nicht mit einer guten». Wir müssen hier nicht einmal darüber diskutieren, ob Selenskyjs Sache eine gute ist, das würde den Rahmen sprengen. Aber selbst wenn sie es wäre: Diese Weisheit ist auch auf die Neutralität zu übertragen. Sie ist sogar ihr Wesen. Völlig egal, wie sympathisch uns ein Anliegen sein mag, wir streifen es uns nicht über. Weil wir neutral sind. Weil wir keine Partei ergreifen. Weil wir damit den Boden bieten für Gespräche zwischen zwei Parteien.
Natürlich tun wir das alles schon seit einem Jahr nicht mehr. Aber das heisst nicht, dass wir nun mit der Brechstange sämtliche Werte unseres Landes zerstören müssen. Einer Kriegspartei darf man nicht das Recht zugestehen, direkt zu unserem Parlament zu sprechen.
So einfach ist es. Es ist kinderleicht zu verstehen.
Aber was rege ich mich überhaupt auf? Die Leute, die dahinter stehen, schaufeln sich ihr eigenes Grab. Im Herbst 2023 wird gewählt.
PS: Ich schlage vor, Julian Assange via Videocall direkt im Nationalratssaal sprechen zu lassen. Wie sieht es aus, Herr Candinas? Interesse?