Und dann kam der Schnee. Und das Feuer.

Ich weiss nicht, wie es bei Ihnen aussieht, aber bei uns im tiefen Osten liegt Schnee. Er scheint gekommen, um vorerst zu bleiben. So ist es auch mit anderen Dingen. Aber der Schnee wird wenigstens irgendwann wieder verschwinden. Anderes nicht.

Er hat Ruhe gebracht, der Schnee. Weiss, friedlich, in sich ruhend. Die Schritte sind gedämpft, auf den Strassen sind etwas weniger Autos unterwegs. Ich mag Schnee nicht besonders, weil ich kein Wintersportler bin und dem Schneeschaufeln nichts abgewinnen kann. Aber am Sonntagabend habe ich den tänzelnden Flocken gern zugesehen. Es war ein Schauspiel, das von allem anderen unberührt blieb. Ein Stück Realität fernab der anderen Realität.

Mitten in der Nacht wurde ich von Lärm geweckt, den ich nicht zuordnen konnte. Ich ging ans Küchenfenster und sah, dass der Dachstock des Hauses gegenüber in Vollbrand stand. Es ist erstaunlich, wie etwas, das vor den eigenen Augen stattfindet, gleichzeitig völlig real und doch surreal wirken kann. Ich sah die Flammen, die langsam von der Wohnung aus das Dachgebälk erfassten. Die Feuerwehr versuchte, das Feuer unter Kontrolle zu bringen, und die Schneeflocken tanzten dazu. Ich weiss nicht, wie lange ich dort gestanden und das Schauspiel beobachtet habe: Zwei Naturkräfte, zwei Gegensätze, gleichzeitig am selben Ort. Und der Mensch, der versucht, es zu richten.

Die Natur, denke ich am nächsten Morgen, während ich bei einer Tasse Kaffee das übel zugerichtete Haus betrachte, ist wenigstens unberechenbar. Genau das macht uns Angst, aber ist Berechenbarkeit wirklich besser? An diesem Sonntag ist in ganz anderem Zusammenhang das Berechenbare eingetroffen, aber es voraussehen zu können, hat ihm den Schrecken nicht genommen. Wenn die Natur wütet, unberechenbar und vorhersehbar, kann man sich immerhin damit trösten: Es ist Schicksal. Wenn unser Schicksal aber bewusst gesteuert wird, wenn das Schicksal wie eine lange Strasse ist mit unendlich vielen Möglichkeiten, abzubiegen oder wenigstens eine Rast am Strassenrand einzulegen und das einfach niemand tun will und wir stattdessen munter auf eine Klippe zusteuern, ist das viel schwerer zu ertragen.

Das Feuer war eine Einladung dazu, alles zu relativieren. Da hat jemand sein Dach über dem Kopf verloren. Was kümmert diesen Menschen, vielleicht ist es auch eine Familie, das, was an diesem Sonntag sonst noch geschehen ist? Für die Betroffenen hat es die Dinge in eine andere Relation gebracht. Nicht, dass es ihnen ein Trost sein kann. Aber für mich als Betrachter wäre es eine Steilvorlage. Ich könnte es als Zeichen sehen: Nicht alles so ernst nehmen, erkennen, dass es Schlimmeres gibt. Das ist ein Schutzwall, den wir gerne aufbauen, wenn wir nicht mehr weiter wissen. Es könnte ja noch schlimmer sein, sagen wir dann.

Das kann es immer. Nur scheint es mir feige, mich mit dem Schicksal eines mir unbekannten Menschen zu trösten. Und ich möchte mich eigentlich auch nicht von der Poesie tänzelnder Schneeflocken beruhigen lassen. Das heisst: Doch, ich möchte schon. Es würde sich gut anfühlen. Ich hätte es bitter nötig. Mich verzaubern lassen von dem, was eben einfach geschieht statt zu leiden unter dem, was bewusst herbeigeführt wird. Aber es fühlt sich an wie ein innerer Rückzug. Die Naturkräfte als Beleg dafür nehmen, dass irgendwo eine höhere Macht sitzt, gegen die unser irdisches Treiben ohnehin ein schlechter Witz ist? Das kann ich mir nicht leisten, solange ich auf dieser Erde lebe. Wobei mir «leben» derzeit ein ziemlich grosses Wort dafür scheint.

Ich fahre ins Büro. Schnee liegt auch in der Innenstadt. Ein perfektes Timing für den Weihnachtsmarkt, der dieses Jahr hinter hohen Metallzäunen und mit Sicherheitspersonal vor einem schmalen Eingang stattfindet. Ich bewundere die Leute, die Adventsgefühle entwickeln und denen es keine Rolle spielt, dass sie ihre «Ungefährlichkeit» belegen müssen, um einen Glühwein zu geniessen. Mir fällt auf, dass ich schon einmal an diesem Punkt war: Ein leiser Neid gegenüber denen, die Gleichgültigkeit anknipsen können wie einen Lichtschalter. Vielleicht müssen sie ja nicht einmal einen Schalter betätigen, vielleicht ist sie einfach dort. Wem wirklich alles egal ist, der hat keine Zweifel, keine Ängste, keine Schuldgefühle. Der braucht kein Bier, um einfach mal wieder für ein paar Minuten zu vergessen, was ist.

In wenigen Wochen werden die Tage wieder länger werden. Früher habe ich mir diesen Moment immer herbeigesehnt. Jetzt scheint mir die Dunkelheit wie ein wohliger Kokon, der alles ausblendet, was nicht stimmt, was schlicht falsch ist. Natürlich sind diese Dinge weiterhin da, aber versteckt hinter einer schwarzen Mauer. Es gibt wenig Grund, die Dinge so sehen zu wollen, wie sie sind. Dunkelheit ist in diesen Zeiten eine Gnade.

Das Feuer ist schon lange aus. Im Moment tänzeln auch keine Schneeflocken. Sie haben sich gesetzt. Sie sind da, irgendwann verschwinden sie wieder. Wie wir. Nur dass wir in der Zeit, in der wir da sind, etwas tun können. Wir müssen nicht ruhen. Wir müssen nicht untätig warten, bis wir von der Sonne verbrannt werden. Wir können dafür sorgen, dass die Nächsten eine Welt betreten, in der sie leben wollen. Leben können. Wenn wir uns, wie am Sonntag geschehen, bewusst dagegen entscheiden, eine solche Welt zu schaffen, nehmen wir unsere Verantwortung nicht wahr. Wir lassen die Dinge einfach geschehen.

Wie eine Schneeflocke.