Die virtuelle Apokalypse

Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich ein Leierkasten: Dieselbe Melodie, immer und immer wieder von Neuem aufgelegt. Dann wiederum denke ich mir: Moment mal, ich singe ja nur zurück – der Leierkasten steht woanders.

Es ist mal wieder der «Tages-Anzeiger» mit seinem vermutlich 24 Stunden pro Tag in Schweiss gebadetem Redaktor Marc Brupbacher, seines Zeichens Leiter des «Interaktiv-Teams». Lustiger Begriff, wo heute doch in der Medienwelt alles irgendwie interaktiv ist. Oder sein sollte.

Jedenfalls lobt sich der Mann auf Twitter regelmässig selbst dafür, wie zielgenau er doch alles prognostiziert hat, was rund um Corona vor sich geht. Eine feine Art der Selbsttäuschung: Wenn man die Apokalypse vorhergesagt hat, diese ausbleibt und man dann einfach laufend sagt, dass sie schon bald kommen wird, aber dann noch schlimmer, ist das kein Treffer, sondern eine Art Uriella-Effekt. Die Dame, Gott habe sie selig, hat den Weltuntergang ja auch nach Belieben terminlich verschoben, wenn er frecherweise ausblieb.

Der «Tagi» beklagt nun aktuell, die Schweizer Bevölkerung gehe «auffällig locker um mit der Pandemie», seit die Massnahmen weg sind. Will heissen: Wie könnt Ihr es Euch erlauben, die Maske wegzulassen, nur weil sie nicht mehr vorgeschrieben ist? Wie könnt Ihr Partys feiern? Wie könnt Ihr Euch umarmen?

Ja, wie denn nur eigentlich?

Und eben, an diesem Punkt kommt das ins Spiel, das beweisen soll, dass die Zeitung und ihr Vortrompeter Brupbacher mit allem völlig recht hatten, denn: Die Ansteckungen nehmen wieder deutlich zu. Fast um 50 Prozent zur Vorwoche!

Nur seltsam, dass man da draussen nichts davon merkt. Wir haben es also mit einer rein virtuellen Apokalypse zu tun. Gemäss Papier liegen wir alle röchelnd am Boden, und im Spital hat es für uns sowieso keinen Platz mehr. Die Realität sieht anders aus, aber nur Anfänger interessieren sich für die Realität.

Und natürlich ist mal wieder die Rede von der «Welle». Eine solche findet statt, wenn die Panik genügend geschürt wird, dass wahre Massen zum Test rennen und die aufgefundenen Spurenelemente auch ohne jedes Symptom in einer hübschen Kurve auf einem Flipchart mit dem grassierenden Tod gleichgesetzt werden.

Es wird übrigens vermutlich bereits im Sommer eine «Welle» geben. Muss es auch, denn es droht das berühmte Sommerloch, das jedem Journalisten Angst macht: Alle sind weg, das Bundeshaus steht still, es gibt nichts zu schreiben. Man kann ja schlecht zwei Monate lang die Herbstwelle ankündigen, da muss schon früher was gehen.

Es ist also alles ganz furchtbar, aber noch viel furchtbarer ist es, dass es kein Mensch merkt. Ausser Marc B. natürlich. Der einsame Rufer in der Wüste, der jede Entwicklung rund um Corona punktgenau vorhergesagt hatte, aber niemand will jetzt auf ihn hören. Das muss schmerzen, ich verstehe das. Wieso begibt sich nicht die gesamte Schweiz schon heute in freiwillige Isolation, bis alles vorbei ist?

Vielleicht, weil es erst vorbei ist, wenn die Medien das beschliessen. Und das werden sie nicht. Schon gar nicht, nachdem die Affenpocken irgendwie nicht so ziehen wollten und die Lage in der Ukraine keine Emotionen mehr weckt. Corona wird dringend gebraucht.