Die Parallelgesellschaft. Und was davon zu halten ist.

Ich mag Drama. Und der Ruf nach einer «Parallelgesellschaft» ist Drama pur. Dennoch ist zu hinterfragen: Wie realistisch ist dieser Ruf? Und wie nötig ist er? Die Antwort lautet: Was lässt man uns denn sonst noch?

Ist das, was in der Schweiz aktuell geschieht, schlimm genug, um nach einer «Parallelgesellschaft» zu rufen, die gewissermassen neben dem offiziellen Leben abläuft? Die «Freunde der Verfassung» haben nach dem Abstimmungssonntag aufhorchen lassen mit der mehr oder weniger direkten Aufforderung, sich von dem, was ist, auszuklinken und eine neue Form des Zusammenlebens zu suchen.

Die schnelle Antwort ist: Nein, natürlich nicht, wir müssen mit dem Unbill der direkten Demokratie fertig werden und damit auch mit dem, was sie mit sich bringt. Wenn über 60 Prozent der Leute finden, Grundrechte und Verfassung taugen nur dazu, als Papier nasse Schuhe auszustopfen oder einen Fisch einzuwickeln, dann ist das zu akzeptieren. Dafür haben wir ja die Demokratie,

Das ist die einfache Antwort.

Aber ein kleiner Einwand: Grundrechte und Verfassung gibt es eben nur deshalb, um klarzustellen, dass gewisse Linien nicht überschritten werden dürfen. Sie sind mehr als Papier. Sie sind, pardon für die Dramatik, heilig. Wenn sie es nicht sind, können wir auch die Anarchie ausrufen. Wir können Läden plündern und das Haus unseres ewigen Feinds abfackeln, ohne dass uns Probleme drohen. Kann man machen, wenn man mag, aber wofür haben wir das Zeugs denn dann bitte? Was schützt uns, wenn uns niemand mehr schützt, wenn uns die Verfassung egal ist? Wenn selbst die Leute, die dafür bezahlt werden, unsere Rechte zu schützen, Diener einer Ordnung sind, denen diese Rechte egal sind?

Wenn eine Mehrheit, die sich einer evidenzlosen, willkürlichen Politik an die Brust geschmissen hat, um persönliche Vorteile zu generieren wie den Besuch eines Restaurants oder eines Zoos, neuerdings gemäss ihren Medien «rücksichtlos» sein soll gegenüber der widerspenstigen Minderheit, die sich an die Verfassung halten mag, dann rückt der Wunsch nach einer Parallelgesellschaft, so absurd er klingen mag, irgendwo in den Bereich des Möglichen. Man lässt uns ja gar keine Möglichkeit. Man treibt uns dorthin.

Offenbar kapieren immer noch viele Leute nicht, welchen tiefgreifenden Wandel wir in den letzten Monaten vollzogen haben. Ohne jede wissenschaftliche Grundlage wurde ein grosser Teil der Gesellschaft zu Aussätzigen erklärt, mit denen man buchstäblich alles machen kann, was man will. Wer Analogien zu früheren Epochen unserer Geschichte sucht, wird gemassregelt: Das ist nicht dasselbe!

Der Faschismusvorwurf ist ok, wenn bei einer Coronakundgebung mit 10’000 Leuten ein Mann mit Glatze mitläuft. Dann sind alles «Rechtsextreme». Man darf diesen Vorwurf aber nicht erheben, wenn systematisch Menschen ausgegrenzt werden, wenn man nur noch mit einem QR-Code Zugang zum gesellschaftlichen Leben hat. Abgesegnet von einer Mehrheit.

Die Mehrheit hat schon vieles abgesegnet in der Geschichte.

Ich habe am Sonntag mit meiner Tochter einen wundervollen Film geschaut. «Der Junge im gestreiften Pyjama». Der Streifen dreht sich um einen hochdekorierten Soldaten, der zum Kommandanten eines Arbeitslagers wird. Sein Sohn freundet sich mit einem kleinen Jungen an, der in diesem Arbeitslager sitzt, ein Jude. Der Sohn des Kommandanten kapiert nicht, warum dieser neue Freund sein Feind sein soll. Warum sie keine Freunde sein dürfen. Sie sterben zusammen in der Gaskammer.

Wir haben nach dem Film auf dem Sofa beide Rotz und Wasser geheult, und meine Tochter, 13 Jahre alt, hat unter Tränen gefragt:

«Das war aber nicht wirklich so? Das war alles erfunden? Das haben die nicht wirklich gemacht mit diesen Menschen?»

Und ich musste ihr sagen, dass daran rein gar nichts erfunden war. Dass es eine Zeit gab, in der die eine Seite gegen die andere Seite aufgehetzt wurde. Bis diese eine Seite glaubte, dass alles, was schlecht ist an ihrem Leben, die Schuld der anderen Seite ist. Bis nur noch Arbeitslager «helfen» konnten. Bis schlicht alles erlaubt war, um diese lästigen Subjekte loszuwerden. Bis selbst die ganz normalen Bürger glaubten, das sei in Ordnung. Bis keiner mehr Fragen gestellt hat.

Nein, ich habe keine Vergleiche zu heute angestellt. Ich habe meiner Tochter nicht gesagt, wo ich die Parallelen sehe. Ich habe sie nicht aufgehetzt. Denn wenn sie das weiterträgt, in die Schule, wird sie zum Opfer.

Aber ganz offen? Man muss blind sein, um die Parallelen nicht zu sehen. Läden, die nur für «Geimpfte» offen stehen, Länder, die Ungeimpfte in einen Lockdown jagen: Wie kann man nicht sehen, was hier läuft, die Offensive gegen Andersdenkende, die nur ihre verfassungsmässigen Rechte wahrnehmen? Wie kann man sich diesen Vergleichen noch länger verwehren?

Ja, man müsste etwas tun dagegen. Aber: Ich weiss nicht, wie diese Parallelgesellschaft aussehen soll. Wo sitzt sie, rein physisch? Ich bin kein Kommunentyp, ich mag nicht selber einen Brunnen bauen für Trinkwasser und irgendwo auf einer einsamen Alp sitzen. Ich habe auch keine Talente, die einer solchen Gemeinschaft etwas bringen würden, ich habe zwei linke Hände. Ich bin ein Kind dieser Gesellschaft und ich möchte gerne zu ihr beitragen. Wenn man mich lässt.

Was ich aber weiss, und was ich aus den Geschichtsbüchern gelernt habe: Es spielt keine Rolle, was man kann. Wichtig ist nur, wo man steht. Vielleicht vergehen 10, 20 oder 50 Jahre, bis die Wahrheit erkannt wird, aber das, was derzeit passiert unter dem Siegel der «Mehrheit», ist falsch. Und die «Minderheit» wird dereinst anders beurteilt werden. Eine Mehrheit, die rücksichtslos gegen die Minderheit vorgeht und sie knechtet, weil sie nicht tut, was sie gefälligst tun muss, ist eine schlechte Mehrheit. Ich ziehe keine Parallelen. Es soll sie jeder selbst ziehen. Aber ja, es gibt sie, keine Frage. Und auch damals hat man das erst sehr viel später gemerkt.

Ob diese Minderheit bis dann eine «Parallelgesellschaft» begründet hat oder nicht, ist ziemlich egal. Die Wahrheit kümmert sich nicht um Begriffe. Wir können nicht mehr tun, als darauf hinzuweisen. Als zu sagen, wie falsch das alles ist. Danach verlieren wir, und eines Tages sind wir eine Fussnote in den Geschichtsbüchern. Wenn wir alle längst tot sind.

Damit kann ich leben.