Cassis und Selenski: Ziemlich beste Freunde

So eine richtige Männerfreundschaft ist doch etwas Schönes. Unser Bundespräsident Ignazio Cassis und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski scheint eine solche zu vereinen. Worauf sie wurzelt: Keine Ahnung. Aber Cassis betont sie jedenfalls sehr, sehr gerne.

Es hat seine Vorteile, wenn man eine schweizweit verbreitete, leserstarke Zeitung ist. Man kann beispielsweise mal schnell den Bundespräsidenten zu einem Chat mit der Leserschaft antanzen lassen. Ich bezweifle, dass Ignazio Cassis diesen individuellen Service einer Regionalzeitung angedeihen lassen würde. Aber vielleicht tue ich ihm damit Unrecht. Man müsste ihn wohl mal fragen.

Jedenfalls stellte sich der Bundespräsident und Aussenminister den Fragen der Community von «20 Minuten». Nachlesen kann man das hier. Wobei es keine besonders prickelnde Lektüre ist. Es gibt Lob, das Cassis artig verdankt, es gibt Kritik, der Cassis diplomatisch ausweicht.

So richtig Leben in die Bude beziehungsweise in Cassis kommt erst, als ein gewisser Renato fragt:

«Sie haben den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski als Freund bezeichnet. Hat Sie Selenski bereits in die Ukraine eingeladen?»

Und Ignazio Cassis antwortet darauf:

«Selenski würde mich gerne jeden Tag in die Ukraine einladen, um zu zeigen, dass wir eine gute Beziehung haben. Er lädt mich aber nicht ein, weil es keinen Sinn ergibt, wenn ich auch mit ihm telefonieren kann. Auf solche Symbolik können wir verzichten, viel wichtiger ist was hinter den Kulissen passiert. Wenn er mich einladen würde, hätten wir wohl ein Problem, weil wir so gute Beziehungen aufgebaut haben.»

Vielleicht sollte man die Antwort nicht wörtlich nehmen, immerhin ist Cassis Tessiner, und abgetippt wurde sie von jemandem von «20 Minuten». Dennoch liegt ein Schuss Humor in der Formulierung. Jemanden «jeden Tag in die Ukraine» einladen, ist etwas unwirtschaftlich, man lädt ihn besser einfach gleich zu einem 14-tägigen Aufenthalt ein, statt ihn jeden Abend zurückzuschicken, damit er am nächsten Tag wieder anreisen kann.

Aber sei’s drum, die Antwort ist inhaltlich bemerkenswerter als rein semantisch. Cassis findet also, Selenski würde der Welt gerne «zeigen, dass wir eine gute Beziehung haben». Ganz schön selbstbewusst. Die ganze Welt kennt inzwischen Selenski, Cassis hingegen… nun ja. Dass sich der ukrainische Präsident mit dieser «Freundschaft», wie auch immer sie aussehen mag, tagtäglich brüsten möchte, scheint eher unwahrscheinlich. Und wenn doch, dann einfach, weil Selenski aus diplomatischen Gründen sowieso derzeit vorführen will, wer alles an seiner Seite steht. Aber dann doch eher jeden Tag eine Grösse aus einem anderen Land als täglich in Dauerschlaufe den Schweizer Bundespräsidenten.

Immerhin gibt Cassis zu, dass seinem best buddy Selenski das eine oder andere Telefonat durchaus reicht. Vielleicht ist die Seelenverwandtschaft ja doch nicht so ausgeprägt? Und was genau ist eigentlich damit gemeint, die beiden hätten ein Problem, wenn Cassis eingeladen würde, «weil wir so gute Beziehungen aufgebaut haben»? Wer genau würde ein Problem kriegen? Selenski, weil er seine wertvolle Zeit für eine Teestunde mit dem Schweizer Regierungschef investiert? Oder Cassis, weil er und seine Kollegen die Neutralität unseres Landes eigentlich so schon überstrapaziert haben? Kommt dazu: Wenn diese «guten Beziehungen» eine Art Geheimnis sind, die man nicht zeigen will, macht es wenig Sinn, sie in einem Chat in einer Onlinezeitung zu betonen.

Vielleicht musste eben einfach alles sehr schnell gehen bei dem Frage-Antwort-Spiel mit der hoch motivierten Leserschaft von «20 Minuten». Die Sinnsuche ist wohl etwas ambitioniert.